▾

Donnerstag, 15. März 2012

Der Verlust der alten Empfindung der sozialen Zusammenhänge und die bewusste Aufnahme des Christus-Lebensgeistes


Gegenüber der ruhigen gegenseitigen rücksichtsvollen Haltung der Japaner bei der Katastrophe 2011 bekam ich immer wieder von den Nicht-Anthroposophen eine Anerkennung. Einige Nicht-Anthroposophen in der Schweiz sagten zu mir: "Man muss von Japan lernen. Ich bewundere die Japaner. " Sie haben es so zu mir gesprochen, weil sie es so fühlten. Sogar in den Zeitungen aller Welt wurde diese Qualität der Japaner gepriesen.

Wie ist es aber bei den Anthroposophen? Manche Anthroposophen sagen aber: "Japaner haben kein Ich."

Als ich nach Deutschland kam, fragte mich eine Person, die zu einer anthroposophischen Arbeitsgruppe gehörte, ob es wahr sei, dass die Japaner kein Ich haben. Es war vor dem Beginn einer anthroposophischen Arbeitsgruppe, die ich ausnahmsweise besuchte. Die Menschen, die in diesem Moment anwesend waren und zur Arbeitsgruppe gehörten, hörten diese Frage mit und fragten mich: "Ist es wahr, dass die Japaner kein Ich haben?"

Man begegnet selbstverständlich nicht immer guten Dingen im Leben, es ist ja überall gleich in der ganzen Welt auch in Japan oder auch woanders. Ich erlebte auch vor diesem Vorfall einige unangenehmen Dingen mit den Katholiken. Z.B. nannte eine katholische Frau mich eine Antichristin, weil ich aus einem buddhistischen Land kam. Aber diese Sache hat mich weniger betroffen gemacht, weil ich den Katholizismus mit den öffentlichen Unfehlbarkeitsdogmen nicht als etwas Zukünftiges betrachten konnte.

Aber das Erlebnis mit den Anthroposophen bedeutete für mich etwas anderes. Ich kam damals extra von Japan, um die Anthroposophie zu studieren. Und die Leute fragen mich: "Haben die Japaner kein Ich?" Ich musste damals für einige Tage lang überlegen, ob ich lieber nach Japan zurückkehren will. Es war für mich völlig klar, dass ich Steiner studieren wollte, aber ich musste meine innere Bereitschaft ernsthaft prüfen, ob ich dafür eine solche primitive Art der Vorurteile aushalten will. Mein Schicksal hat sich aber für das Bleiben entschieden.

Neuerdings erlebte ich das Gleiche mit einer deutschen Mitarbeiterin im Rudolf Steiner Archiv in Dornach, die nun bereits gekündigt wurde. Sie sagte zu mir, dass sie gehört hat, dass Steiner gesagt habe: Japaner haben kein Ich. Das sagte sie völlig gefühlslos in einem kalten und intellektuellen Ton, obwohl ich sie sofort in Zorn - viele Leute können nicht einmal zornig werden, weil sie die innere moralische Wärme-Empfindung im Herz verloren haben - auf die Problematik hinwies, dass man solche Gerüchte und die für das heutige Bewusstsein diskriminierenden Ausdrücke Steiners über die Völker nicht einfach bloss stehen lassen kann. Sie wies völlig nüchtern wie eine Maschine - als ob sie in ihrer Seele nichts empfinden würde - darauf hin, dass die Anthroposophie sich immer mehr in der ganzen Welt verbreitet. Ich sagte zu ihr: Gerade deshalb muss man diese Dinge dringend ändern. Sonst werde es die Anthroposophie schädigen. Sie wirkte auf mich so, als ob sie keine individuelle Moral-Empfindung mehr spürt.

(Ich kenne diese Art der Zementierung des Ätherleibes in einem gesteigerten Mass an den Personen, die z.B. Machtposition innehaben. Das meine ich aber natürlich nicht als etwas, was bei den Anthroposophen speziell zu finden ist. Das ist in der heutigen Welt weit und breit verbreitet. Diese Art der Menschen wiederholen eigentlich immer nur das, was in ihrem Bewusstsein vorprogrammiert ist als Urteile und Handlungen. Ich habe dies auch an manchen Beamten erlebt, die wie eine perfekte Maschine programmiert sind und sich immer nur nach der programmierten fremden Ordnung verhalten. Sie sprachen hochintelligent, konnten aber kaum eigenständig denken. So wird man zum Teil bewusst und gezielt erzogen - das nennt man heute sogar zum Teil "elitär" - und wie ein Computer für das Funktionieren programmiert, damit man ohne Atem der Seele zuzulassen, für immer unverändert bleibt, so wie man programmiert wurde. Die Seele eines solchen Menschen wirkt wie völlig zementiert. Keine neue Luft geht mehr hinein, keine alte Luft kommt heraus. Die Intelligenz entwickelt sich in einem geschlossenen Innen-Raum. Der Ätherleib zeigte eine ahrimanische Verhärtung. Eine menschliche Begegnung hat in dem Fall keinen Sinn mehr. Das soziale Leben wird zu einer Abstraktion, weil die natürliche soziale Empfindung nicht mehr lebt.)


Oder auch die Frage an Japaner : "Wo ist denn bei Euch in Japan die Bewusstseinsseelenkultur, so wie wir sie haben, vorhanden?" - das war z. B. was ich in einem Artikel von Daniel Moraeu über Japan las, der nach dem Erdbeben 2011 in der Wochenschrift Goetheanum veröffentlicht wurde. Darauf habe ich mit einem Leserartikel reagiert. Es geht dabei nicht um intellektuelle Fragen, sondern um eine Gesinnung der Überheblichkeit, welche von einer solchen Frage nicht selten ausgeht.

Die Anthroposophen sprechen selbstverständlich vom "Ich" und wissen selten tief genug, was das Ich wirklich bewirkt. Die Volksvorurteile machen nicht wenige Anthroposophen rückständig in gewisser Hinsicht gegenüber der Durchschnittsbevölkerung in Europa. Sie denken nicht eigenständig, prüfen nicht, was sie wirklich wahrnehmen und erleben. Nicht wenige Anthroposophen können das Ich nicht wirklich im spirituellen Sinne verstehen, weil sie das Ich bloss als etwas betrachten, wodurch man sich von den anderen Wesen trennt. Hat man schon einmal tief genug über das Wesen des Ich so nachgedacht: Wie kann man bewusst sozial sein und sich selber bewusst zurücknehmen, so wie die Japaner tun, wenn man das zentrale Bewusstsein des Ich im Menschen nicht vorhanden wäre? " Japaner haben kein Ich" - das ist eine zu primitive Annahme.

Manche Anthroposophen sprechen ein solches Urteil völlig gefühllos aus, weil sie wegen ihrer starren Vorstellungen unfrei sind und die Tatsachen im Leben nicht unbefangen wahrnehmen können. Sie haben verlernt, aus einem gesunden moralischen Gefühl zu einer eigenen Herzerkenntnis zu kommen. Die nicht-anthroposophischen Menschen sind in mancher Hinsicht viel unbefangener. Derjenige, der ein solches Urteil ernst nimmt, muss einmal genau seine Seele prüfen, welche "innere und moralische Gesinnung" einer solchen konkreten Aussage - "Japaner oder irgendein Volk haben/ hat kein Ich" - zugrunde liegen muss. Ist es ein Respekt oder eine Verachtung? Ist es Liebe oder Sarkasmus? Wer eine Seele hat, kann eigenständig die Antwort darauf finden.

Japaner haben ein einzigartiges Ich-Bewusstsein, das sich anders zum Ausdruck bringt als das Ich-Bewusstsein hier, das sich immer nur getrennt von allen Wesen erlebt. Steiner sagte einmal: Man könnte zuerst denken, als ob Jesus von Nazareth kein Ich hätte, aber es ist in Wirklichkeit überhaupt nicht so. Jesus von Nazareth ist eine Himmelsseele, in der das Ich sich so darstellt, welches die eigentliche menschheitliche Dimension nicht verloren hat.

Ähnlich ist es mit dem Ich der Japaner. Sie erleben ihr Ich nicht nur als individuelles Bewusstsein, sondern als ein grosses Ich. Aber das heisst nicht, dass sie das Ich nicht haben. Sie erleben sich dadurch intensiv, dass sie bewusst der Gemeinschaft dienen. Daran sehen sie den eigentlichen Sinn und die eigentliche Erfüllung des menschlichen Ich. Sie nehmen Rücksicht auf die anderen Menschen, weil sie das grosse gemeinsame Ich als eine Wahrheit erleben und fühlen. Sie tun es nicht so wie hier manche Anthroposophen aus einem ausgedachten sozialen Ideal oder einem sozialen Zwang, um einer Gemeinschaft dienen zu müssen. Das ahrimanisiert zuletzt die Gemeinschaft und sie selber.

Weil das Ich-Bewusstsein, das hier in Europa nur getrennt erlebt wird, von den Japanern nicht als das wahre Ich erlebt wird - es kommt ihnen eher als ein Schein-Ich vor -, deshalb gibt es viel weniger eine aggressive Machtdurchsetzung durch eine Autoritätsperson in Japan.

Ich denke, diesen wahren Sachverhalt durchschauen viele Anthroposophen nicht. Sie konnten bis jetzt nicht viel davon ahnen, dass das Ich über die eigene Haut hinaus erweitert erlebt werden kann, ohne dass man eine hohe Einweihung durch gemacht haben muss.

Der Ausdruck der menschheitlichen Ich-Seelenhaftigkeit Jesus von Nazareth ist darin zu sehen, dass er überall, wohin er kam, den Menschen intensiv zuhörte. Das sind Begebenheiten, die von Steiner im 5. Evangelium dargestellt sind. Es sind die Dinge, die Jesus vor der Jordan-Taufe erlebte. Er wanderte von einem Ort zu dem anderen und fühlte auf seiner Wanderschaft in unbeschreiblich inniger Art und Weise das Leid und die Sorgen der Menschen mit. Die Menschen fühlten eine unmittelbare Verbindung zu ihm, obwohl er bei ihnen ein Unbekannter war. Er war bei ihnen noch weiterhin geistig-seelisch vorhanden, auch nachdem er wieder von ihnen ging. Und das ist die unverwechselbare Ich-Seelenhaftigkeit des Jesus von Nazareth.

Es ist die Qualität des intensiven Mitfühlens in einem Notzustand und die Substanz der Brüderlichkeit von Jesus von Nazareth. Sie sind genau diejenigen Qualitäten, von denen die Menschen berichten bei einer Christus-Begegnung. Das grosse Ich-Bewusstsein, das eigentliche Christus-Ich, das aber zugleich die Freiheit nicht beschränkt, kann nur so in einem weisheitsvollen fühlenden Erlebnis sich offenbaren. Daraus entsteht in der Menschenseele das Gefäss der Brüderlichkeit für die 6. Kulturepoche.

Das Ich der Japaner hat im obigen Sinne eine Aufgabe, die ursprüngliche Dimension des Ich zu pflegen, so dass daraus nach und nach der erste Keim einer modernen Brüderlichkeit entstehen kann. Und das wird neben den anderen Elementen, die von den anderen Völkern beigetragen werden, eine tragende Substanz für die 6. Kulturepoche werden. Lange hat man in Europa an das Ich geglaubt, das sich im trennenden Sinn individualisiert. Das war auch richtig. Das war mit einer wichtigen Aufgabe ihrer Kultur verbunden. Mit der Notwendigkeit der Einführung der modernen Karmalehre muss aber heute im 21. Jahrhundert die Substanz der Brüderlichkeit neu in der Menschenseele geboren werden für die Rettung der Erdenzivilisation. Diese Brüderlichkeit kann dadurch entstehen, dass das europäische Ich aus dem östlichen Ich die Fähigkeiten des Mitfühlens lernt.

Die Inspiration von Gautama Buddha für die Modernisierung der weisen Karma-Lehre ist etwas, wodurch man die Qualität der Dimension des grossen gemeinsamen Krischna-Ich (Jesus von Nazareth) pflegen kann, ohne das Individuelle zu verlieren. Neben der europäischen Kultur, in der das Ich, das für die individuelle Freiheit getrennt erlebt wird, hat das Ich in Japan durch die ätherische Weisheit des Lebensgeistes die ursprüngliche Dimension des Sonnen-Ich nicht ganz verloren. "Nihon" - der Name Japans auf japanisch bedeutet "Sonnen-Ursprung". So wie der Name uns erzählt, wollte der Volksgeist Japans das ursprüngliche Sonnen-Ich so gut wie möglich pflegen - das Eine grosse Ich der Sonnen-Menschheit.


Weil die natürliche und gesunde soziale Empfindung, die ursprünglich in unbewusster Art von den Göttern gegeben worden war, in der Mitte des 20. Jahrhunderts verloren ging und seitdem das Festhalten der alten sozialen Ordnung einer starren Hierarchie von den Anti-Sonnen-Geistern immer tiefer durchsetzt wird, sind wir immer mehr genötigt, in einer totalen Ohnmacht die Sehnsucht nach den Substanzen des Lebensgeistes Christi zu entwickeln, um sie bewusst entgegenzunehmen. Aber zuvor erlebt der Mensch Ohnmacht, weil er die Grenzen der eigenen Fähigkeiten intensiv durchleben muss. Die göttlichen Substanzen des Lebens kann der Mensch in der gegenwärtigen Entwicklungsphase nie aus sich selber entwickeln. Das Durchleben der eigenen Grenzen ist die Voraussetzung dafür, dass der Mensch die von Liebe und Weisheit durchsetzten Substanzen des Christus gezielt in sich aufnehmen kann. Das schmerzvolle Erleben der menschlichen Grenzen in einem grenzenlosen tiefen Mitgefühl zu durchwärmen und dadurch den Menschen zum heilenden ätherischen Lebensstrom des Christus zu führen ist die heutige moderne Inspiration Gautama Buddhas.

Junko Althaus









Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen


Im Moment können keine weiteren Kommentare mehr entgegengenommen werden. Die nötige Zeit um sie durchzulesen und sie sorgfältig zu beantworten, sind zurzeit nicht vorhanden.

Wenn Sie mir etwas mitteilen möchten, können Sie mich per Mail kontaktieren.
Meine neue Mail-Adresse finden Sie auf der rechten Seite oben.

Junko Althaus

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.