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Freitag, 9. April 2010

Mit dem Herzlicht den "Menschen Rudolf Steiner" beleuchten



Als ich vor 14 Jahren aus Japan nach Deutschland kam und zu studieren begann, war durch Einiges mein Grundsystem erschüttert.

Ich hörte, dass man hier den Gott per Du anspricht. Das war mir im ersten Moment ein wenig fremd. Man sagte zu mir, Gott per Sie anzureden, geht nicht, es ist viel zu distanziert. Als ich es hörte, fühlte ich in mir eine Befreiung. Ein leises Fremdgefühl, das ich im ersten Moment hatte, verschwand rasch und statt dessen breitete sich in mir ein angenehmes Freiheitsgefühl aus.

Ich dachte: Ja, es ist schön, dass man gegenüber dem Gott nicht höflich sein muss. Die Höflichkeit, die man in Japan beim Sprechen dauernd achten musste, störte mich sehr beim freien Denken und Austauschen. Ich sehnte mich stark danach, mal wirklich nur ganz so zu denken und reden, so wie ich bin, und nicht mehr, aber wirklich gar nicht mehr auch noch nebenbei immer denken, wie soll ich es ausdrücken, damit es nicht unhöflich wird.

Ich fand es gut, dass man nicht höflich und distanziert per Sie den Gott anspricht, sondern direkt per Du. Das passte mir damals gerade sehr gut. Und ich war tief überzeugt, das ist ein wesendlicher Zug des Urchristlichen.

Ich war froh, dass ich frei denken und reden kann ohne auf die strenge Höflichkeit zu achten, denn es war für mich wie eine Qual in Japan. Aber im Lauf der weiteren Zeit merkte ich, dass gerade dieser Zug, der von mir als etwas Urchristliches erkannt wurde, nicht "obligatorisch" praktiziert wird. Hier in Europa gibt es gleichwohl die strengen Machtstrukturen und Rangordnungen, die sogar in der Tat noch viel strenger sein können als in Japan wahrscheinlich auch aus dem Grund, weil man sich nach aussen hin liberaler als bei uns gibt.

Die Japaner haben ihre klare Höflichkeitsform in der Sprache. Sie markieren sprachtechnisch die Stellungen durch die Positionen und die Altersunterschiede. Wenn man diese Regeln der Höflichkeit einhält, dann hat man realtiv viel Freiraum in Beziehung und sogar unter Umständen viel leichter als hier in Europa ein offenes freundschaftliches Verhältnis mit einem Vorgesetzten. Das ist etwas, was mir erst langsam klar wurde.

Ich finde z. B. die Beziehung der erzanthroposophischen Menschen zu Rudolf Steiner extrem distanziert. Sie möchten ihn verehren und deshalb distanzieren sie sich von ihm. Ich glaube, sie möchten ihn nicht wirklich verstehen, sondern ihn verehren. Steiner selber sagte einmal: Ich möchte nicht verehrt, sondern verstanden werden!

Verstehen kann man nur, wenn man es lieben will. Dafür muss man zuerst die Distanz überwinden.

Ich denke, manche erzanthroposophische Menschen wollen ihn nicht wirklich verstehen aus dem Grund: Wären die Gedanken von Steiner für sie einfach zu verstehen, dann würde das für sie einen radikalen Wertverlust bedeuten.


Es gibt zahlreichen Menschen in der Welt, die die Überzeugung haben: Etwas Heiliges zu verstehen bedeutet eine Anmassung. Ihnen scheint die Verehrung mit der anständigen Distanz vom Verehrungsgegenstand das Allerwichtigste zu sein. Ich frage mich, ob ein wahres Verständnis ihnen wie eine anmassende Gotteslästerung vorkommt?

Bei ihnen scheint noch die Überzeugung aus ihren früheren Leben zu existieren: Etwas Heiliges darf man nicht begreifen. Wer so ein Gebot "man darf Steiner nicht verstehen" innerlich festhält, wird ihn natürlich nicht verstehen und verbietet den anderen Menschen ihn zu verstehen.






Die menschliche Empathie ist für mich eine kostbare Erkenntnisfähigkeit.

Sie ist für mich nicht identisch mit dem Mitfühlen und Mitdenken im Sinne der äusserlich wahrnehmbaren seelischen Aussagen eines Menschen. Die Empathie ist ein Herzlicht, mit dem man die Seele durch die äusserlichen Aussagen hindurch beleuchtet.

In uns leben sehr verschiedene Gedanken, Empfindungen und Willensrichtungen. Und nur etwas, was gerade an der Oberfläche ist, nehmen wir wahr, machen uns bewusst und sprechen es aus. Hinter diesen Aussagen leben noch viel mehr die Inhalte, die nicht von uns zugelassen, wahrgenommen werden. Sie - diese Inhalte fühlen sich von uns selber übergangen. Es gibt viele solche Gefühle, Gedanke und Wünsche. Sie erzeugen in der Tiefe unseres Wesens die Ursachen der Krankheiten, des Stress und der Unzufriedenheiten, weil etwas, was wahrhaftig zu uns gehört, ignoriert wird. Das heisst in Wirklichkeit, ich verleugne mich selber.

In den biographischen Sitzungen habe ich immer mehr diese Fähigkeit des Herzens entdeckt. Ich kann nicht beleuchten, wenn mein Klient es nicht will. Aber sonst kann ich im meinem Herzen viel wahrnehmen. Ich konzentriere mich auf die Reaktion meines Herzens, wenn ich dem Menschen zuhöre. Es hat verschiedene Wahrnehmungen. Es fühlt sich gedrückt oder leicht, hell, schwer oder zerdrückt oder gebrochen u.s.w. an. Wenn ich noch weiter auf mein Herz achte, dann frage ich den Menschen, ob es mit seinen inneren Erlebnissen zu tun hat. So mache ich mich mit dem Menschen auf dem Weg, nach Innen zu kehren und das Herz zu verstehen.

Ich habe mich oft in Rudolf Steiner hinein gefühlt, wie es ihm gegangen ist. Seitdem ich mich anfing, mit seinem Karma zu beschäftigen, war er mir sehr nahe. Er kam mir nicht als ein Eingeweihter, den niemand wirklich versteht, sondern als ein Mensch, der wie wir alle ein Herz in sich trug.

Ich trat in die vergangenen Zeiträumen, in denen er lebte und beleuchtete seine Innenwelt mit meinem Herzlicht. Immer wieder musste ich mich fast in den Tränen auflösen, weil ich seine intensiven Empfindungen spürte.

Er hat unwahrscheinlich tief gelitten. Ja, er hat sehr gelitten darunter, dass er sich von niemandem richtig verstanden fühlte. Dennoch will ich keiner Person, die mit Steiner zusammengearbeitet hat, etwas vorwerfen, denn es ist nicht in seinem Sinne. Es ist auch nicht eine produktive Denkweise.

Steiner fühlte sich sehr schlecht in den allerletzten Jahren seines Lebens. Er fühlte sich nirgendwo mehr wohl ausser bei Ita Wegman, mit der er durch mehrere Jahrtausende hindurch gemeinsam auf der Erde war und verschiedene Aufgaben gemeistert hatte. Er hatte eine ganz tiefe Herzensbeziehung zu ihr. Nur bei ihr fühlte er sich wirklich gut aufgehoben. Es war schockierend für mich, als mir dies klar wurde.

Nach meiner Empfindung muss ich sagen: Die damaligen Anthroposophen haben daran keine Schuld. Oft habe ich gehört: Die Menschen haben ihn nicht genügt. Sie haben versagt. Zwar Steiner sagte es mehr oder weniger, er sei so krank geworden, weil so viele Menschen zu ihm kamen. Aber in der Tat war etwas ganz anderes wichtig.



Er hatte schon lange viel zu viel gearbeitet. Er konnte nicht loslassen und musste immer weiter pausenlos arbeiten, obwohl sein Herz schon lange nicht mehr auf diese Weise arbeiten wollte. Er sehnte sich in der Tat nach einer verständnisvollen und liebevollen Atmosphäre der Menschen, die für ihn heilsam sein könnte. Er liess dennoch in Wirklichkeit überhaupt nicht locker und hat sich im Gegenteil fast in die Arbeit geflüchtet. Er hat noch nicht alles erfüllt gehabt, was er zu erfüllen beabsichtigt und versprochen hatte, bevor er mit einer gewaltigen Mission auf die Erde kam. In im lebte eine Treue zu seinem Auftrag.


Er konnte die Rolle eines Geistesforschers nicht abgeben, der sich Tag und Nacht für die Menschen mit ihren Fragen zur Verfügung stellt.

Er konnte seine Rolle eines modernes Eingeweihten nicht loslassen, weil er spürte, die Menschen sehen ihn so und haben die Erwartung von ihm, die er erfüllen soll.


Es klingt stark, aber ich erlebte so, dass er mir wie ein "Selbsbedienungsladen der Weisheiten für alle" vorkam. Er liess sich von den Menschen bedienen, was sie bei ihm wollten. Sie kamen zu ihm und er drückte eine unsichtbare Taste, dann kam die erwünschte Antwort aus ihm heraus. Man war froh, dass man sie bekam und ging wieder. Dann kam wieder ein anderer und wollte etwas anderes von ihm u.s.w.

Steiner liess sie sich immer weiter bedienen, konnte den Vorgang nicht stoppen. Er fühlte sich so verantwortlich für alles und konnte sich nicht abgrenzen. Und er glaubte ganz fest daran, das sei seine Pflicht und eine unveränderliche Schicksalsbestimmung als Geisteslehrer und Eingeweihter. Das kann man aber durch die allgemeine Empfindung es Menschen des Beginn des 20. Jahrhunderts voll nachvollziehen, von der unserer heutige Empfindung bereits abweicht. Die Anthroposophie war seine Liebe, seine Lebensmission und ein höherer Auftrag. Ohne sie bedeutete sein Leben nichts. Aber er hat wegen dieser Mission sich selber und seine Gesundheit vollständig in Stich gelassen.

Er sagte einmal: dass man ihn Tag und Nacht ruft, wann man ihn braucht, das sei die grösste Liebe zu ihm. Davon war er überzeugt, aber sein Herz wollte etwas anderes. Es wollte Ruhe, Verständnis und Liebe. Es klingt nicht so toll, wenn ich das Wort "Bedienen" verwende, aber ich empfand so, wenn ich immer wieder seine Gefühle beleuchtet habe. Und ich musste für ihn sehr viel weinen.

Für ihn existierte so etwas wie "eine liebevolle Zuwendung sich gegenüber" nicht. Die war wahrscheinlich das letzte Ding, das er sich selber geben wollte. Er selber ging mit sich erbarmungslos um, deshalb liess er sich auf die nimmer aufhörenden Anfragen, die Anforderungen, die Bitten ein, mit denen die Menschen fortwährend an ihn herantraten.

In seinem Brief von 11. Juni 1924 an Ita Wegman ("Wer war Ita Wegman Band 1 " J.E. Zeylmans van Emmichoven, "Die Erkraftung des Herzens"J.E. Zeylmans van Emmichoven ) kann man ganz intensiv diese innere Situation von Steiner ablesen, wenn man den Inhalt mit seinem Herz beleuchtet. Wie sehr hat er sich nach einer heilsamen und verständnisvollen menschlichen Umgebung gesehnt. Die konnte er sich nicht leisten, ausser dass er in Dornach bei Ita Wegman eine tief menschliche Annahme spüren konnte.

Er konnte bei ihr wirklich ein Mensch sein. Sie konnte ihn annehmen ohne jegliche feste Erwartung, z.B. "wie ein Eingeweihter sein soll", denn er bedeutete für sie noch viel mehr als einen Eingeweihten. Deshalb brauchte auch er vor ihr nicht seine Pflicht-Rolle starr festzuhalten, was er sonst wegen seiner Mission immer tun musste. Er konnte vor ihr ganz aus dem vollen Herzen frei die Weisheiten schöpfen. Diesen vom Herz durchdrungenen Weisheiten begegnen wir in den vielen Sprüchen und den Meditationen, die er Ita Wegman schenkte. Sie sind nach ihrer Stimmung grundverschieden von allen Übungen und Sprüchen, die er sonst den anderen Menschen gab.

Ita Wegman hatte einen echten und authentischen menschlichen Zugang zu Steiner. Deshalb konnte auch er vor ihr anders sein als vor allen anderen Menschen. Diese Besonderheit ist sehr tief in der gemeinsamen Vergangenheit begründet. Er schöpfte immer wieder neu aus dem Zusammmensein mit ihr die heilsamen und aufbauenden Kräfte, die er für die geistige Arbeit, die er niemals enden wollte, dringend nötig hatte.

Ich finde es so wichtig, dass wir alle diesen Hintergrund genügend verstehen. Die damaligen Anthroposophen, die von sich meinten, sie genügten Steiner nicht, haben wirklich nicht versagt. Wenn man denken würde, die damaligen Schüler von Steiner haben versagt, dann wird man ihnen gegenüber überhaupt nicht gerecht. Sie waren sehr begabte Persönlichkeiten und haben erstaunlich viel geleistet. Nur Steiner hat sehr gelitten. Dennoch niemand hat Schuld daran. Es war einfach so.


Wollen wir nicht den hartnäckigen Bann, der über ihn ausgebreitet ist, auflösen und ihn endlich definitiv von der starren Rolle als Eingeweihter entlasten? Das können wir tun dadurch, dass wir ihn statt verehren, menschlich verstehen und lieben.



Junko Hill








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