Montag, 19. September 2011

Ist die Wahrheit noch eine wirkliche Wahrheit, wenn sie vom Spott durchzogen ist?




"Fühlendes Denken" und "Denkendes Fühlen" - das ist das Denken, das heute immer mehr entstehen sollte.

Sind die Gedanken nur bloss Gedanken? Rudolf Steiner führt in den Leitsätzen aus, dass im Denken das Fühlen und das Wollen, im Fühlen das Denken und das Wollen, und auch im Wollen das Fühlen und das Denken anwesend sind. Was heisst das?

Wenn wir denken, dann fühlen und wollen wir zugleich im Denken. Ich denke an die ganz bestimmten Gedanken. Nicht nur denke ich dabei in Wirklichkeit, sondern ich fühle im Fühlen und empfinde auch dunkle Empfindungen im Wollen. Je nachdem was für ein Gefühl ich in mir als eine Stimmung trage - ob ich einen Spott, eine Unzufriedenheit, einen Neid in mir trage, oder eine Liebe oder ein Mitgefühl - je nachdem formuliere ich meine Gedanken zuletzt ganz anders. Und die Gedanken bekommen je nach dem Gefühl sofort einen ganz anderen astralischen Mantel. Selbst der Denkvorgang ist völlig anders, je nachdem was für ein Gefühl ich gerade in mir trage, während ich denke. Es geht aber nicht darum, dass man sich zwingt, unbedingt immer nur ein "gutes Gefühl" zu tragen. Das ist ein "Sich-Betrügen" und hilft deshalb nicht viel, weil dennoch die anderen Gefühle in der tiefen Schicht der Seele hartnäckig vorhanden sind, solange sie nicht von dem Betreffenden klar und bewusst beleuchtet werden. Wenn man aber wahrhaftig seine natürlich entstehenden Gefühle in der Seele erkennt, verlieren sie die unmittelbare Macht über den Gedankenvorgang und über die Handlunug. Der Gedanke kann sich erst dann wahrhaftig frei von den subjektiven Gefühlen entfalten.



Der Mensch nimmt heute diese Tatsache noch kaum richtig wahr, wie sehr die Gefühle und Empfindungen, die er in sich trägt und kaum reflektiert, seinen Gedankenvorgang und seine Handlungen unmittelbar beeinflussen oder sogar bestimmen. Das ist einer der wichtigsten Gedanken, die R. Steiner in seiner "Philosophie der Freiheit" ausführt, der aber kaum beachtet wird.

Viele Anthroposophen wollen hartnäckig ausschliesslich nur das Denken ernst nehmen und klammern sich daran. Sie versuchen nicht, sich die eigenen Gefühle und Empfindungen bewusst zu machen, obwohl Rudolf Steiner von der dringenden Notwendigkeit der Wachheit im Fühlen und im Wollen wiederholend gesprochen hat. Viele glauben immer noch fest an eine anthroposophische Tradition, welche nur die ganz bestimmte trockene gedankliche Seite der Aussage Steiners vertritt. Viele glauben viel mehr an die Sekundärliteratur, welche einseitig die Wichtigkeit des Denkens betont und gehen an den zahlreichen Original-Worten Steiners unbeachtet vorbei, welche wiederholend und dringlich auf eine vielseitig-begründete Erkenntnis der seelisch-geistigen Dreigliederung hinweisen. Die Vorstellung der Menschen - eine Brille, die sie immer an sich tragen - "das Denken ist alles" lässt sie bei der Beschäftigung mit dem Werk Steiners nicht erkennen, dass die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners in Wirklichkeit auf der ganz ausgeglichenen und harmonischen Dreiheit des Denkens, des Fühlens und des Wollens basiert und nur auf dieser Grundlage sich gesund weiter entfalten kann.



Wer in seinem Fühlen wach ist und die Gefühle nach ihrer Qualität exakt erkennen kann, so dass er im Fühlen denken und im Denken fühlen lernt, kann das Fühlen nach und nach zu einem Wahrnehmungsorgan umwandeln. Dadurch hat er eine noch viel weitere und feinere Möglichkeit, die Wahrheiten zu erkennen. Das Fühlen beginnt mit dem Denken gemeinsam für die Erkenntnis zu arbeiten.


Viele Menschen sind hauptsächlich nur in ihrem Denken wach und nicht in ihrem Fühlen. Der Mensch A sagt zu dem Menschen B etwas und erlebt dadurch, dass B sich über ihn ärgert. Der Mensch A ist ganz überrascht, dass der andere so heftig auf ihn reagiert und versucht sich intensiv zu rechtfertigen. Aber B ist ganz beleidigt. B wird emotionell und wirft dem A verletzende Aussagen vor. A versteht es nicht und ist ratlos. Solche Sachen passieren eben im Alltag dauernd.

A könnte z.B. zu B sagen: Ich sagte einfach nur eine Wahrheit zu dir, wieso regst du dich auf? Es mag tatsächlich so sein, dass die Gedanken von A "richtig" sind. Aber ist die Wahrheit noch eine wirklich komplette Wahrheit, wenn sie von einem Spott oder von einem sarkastischen Gefühl durchzogen ist? Die sehr ähnlichen Gedanken können von einer wirklichen Liebe durchzogen sein, oder von einem Spott. Beide Gedanken können oberflächlich betrachtet einem nicht so unterschiedlich vorkommen. Wenn man sie aber tiefer beleuchtet, kann man erkennen, dass die Gedanken mit einem Spottgefühl einen das Leben schwächenden und den Menschen verhärtenden Charakter durchzogen sind. Entsprechend wirken sie auf den Sprecher und den Empfänger. Die Gedanken aber, die von der Liebe durchdrungen und frei von Spott sind, wirken auf die Lebenskräfte des Empfängers, aber auch des Sprechers selber unmittelbar stärkend. Viele Menschen können noch zu wenig diese Dinge wirklich durchschauen und sie voneinander wach unterscheiden. Unbemerkt von vielen Anthroposophen schreitet die "Austrocknung des Denkens" - eine der grundlegenste Ursachen der heutigen Kulturkrankheiten, von der Steiner im Zusammenhang mit dem "Selbständigwerden des Ätherleibes" spricht, allgemein im rasenden Tempo voran.




So etwas Ähnliches wie zwischen A und B kann im Alltag schnell passieren, wenn der Mensch zwar einen ganz wachen "Kopf" hat, so dass er stolz auf seine Schlagfertigkeit ist, aber dass er kaum im Fühlen wach ist. Er ist zwar wach im Kopf, aber ganz schlafend im Fühlen, weil er dort seine Aufmerksamkeit nie hinlenken lernte. In Wirklichkeit ist es so, dass nicht einfach bloß die Gedanken des Menschen A den Menschen B beleidigt und verletzt haben, sondern viel mehr die Empfindungen, die A gegenüber dem B in sich unbewusst trug - der Spott, das Überlegenheitsgefühl und die Geringschätzung des Menschen B. Das Überlegenheitsgefühl, welches A gegenüber dem B zwar unbewusst in seiner Seele trug, hat B aber unmittelbar in der Tonalität und im Verhalten von A wahrgenommen. Also B hat im Fühlen dieses halb bewusst erkannt. Ein liebloses Überlegenheitsgefühl, das ein die Lebenskräfte unmittelbar minderndes und angreifendes Astral-Gefühl ist und auch ein Spott, der ein heute weit in der Welt verbreitetes Kultur-Gift ist, welche in der Stimmung der Seele des Menschen A vorhanden waren, nahm der Mensch B im Fühlen halb bewusst wahr. So entsteht im Alltag ganz leicht eine soziale Auseinandersetzung.

Wer nur im Denken, aber nicht im Fühlen wach sein will, kann keine wirklich sozialen Fähigkeiten entfalten, die heute und in der Zukunft nötigt sind. Er kann auch keine Wahrheiten erkennen, die wirklich heilsam für sich selber und die Welt sein können.



Junko Althaus
























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