Nachdem 1935 Ita Wegman und Elisabeth Vreede mit zahlreichen Mitgliedern ausgeschlossen wurden, verschwand von Dornach das Thema der Karmaerkenntnis. Es ist schmerzhaft zu erfahren, dass die Abendsvorträge Steiners während der Weihnachtstagung, die ihm so sehr am Herzen lagen, bis 1944 nicht öffentlich zugänglich waren. Marie Steiner veranlasste, dass sie bis dahin nicht veröffentlicht wurden.
Es fällt auf, dass Marie S. von Sivers bereits vor der Weihnachtstagung keine frische Kraft mehr besass, um kräftig den Neubeginn der anthroposophischen Bewegung mit zu gestalten. Ich denke, sie war bereits sehr erschöpft, weil sie bis dahin zahlreiche Schwierigkeiten durchstehen musste. Sie nahm stets enorm viel Arbeit von Steiner ab, die nur von ihr ausgeführt werden konnte. Ihre Arbeit war oft mühevoll, war wenig mit Freude verbunden. Sie verlor immer mehr Kräfte und wurde als Person streng. Die intensive Verbindung zwischen R. Steiner und Wegman war für sie nicht zu verstehen und zu akzeptieren. Steiner versuchte schon immer wieder beiden Frauen freundschaftlich zu vermitteln, aber Marie S. von Sivers lehnte Wegman ab. Und das verursachte ein tiefes Leid bei R. Steiner. Es war eine Prüfung für die Entwicklung der Anthroposophie, dass die zwei wichtigsten karmischen Ströme um Steiner durch I. Wegman und M. von Sivers harmonisch miteinander arbeiten sollten. Aber es war nicht möglich. Die harmonische Zusammenarbeit zwischen zwei karmischen Strömen von I. Wegman und Marie von Sivers, die sehr wesentlich für die weitere Entwicklung der Anthroposophie war, scheiterte.
Der Karma-Impuls, der durch die Weihnachtstagung gegeben wurde, war etwas, bei dem Marie S. von Sivers nicht als ihr innerstes persönliches Anliegen mittrug. Sie konnte die Karmaforschung nicht als ihre zentrale Aufgabe sehen. Es war für sie eher eine neue geistige Offenbarung durch Steiner, aber keine praktische Angelegenheit zum Erkennen. Sie wollte nicht mehr ein schwerwiegendes Amt im Vorstand übernehmen, weil sie lieber ungestört die anthroposophische Arbeit weiter pflegen, die ihr vertraut war. Diese Tatsache, dass Marie S. von Sivers nicht mehr volle Kräfte besass, hinter dem neuen Impuls der Karmaerkenntnis stand, hatte Folgen. Dieser Impuls, der die eigentliche Mission Steiners war, konnte von ihr nicht mehr so intensiv mitgetragen werden, wie bisher. Es bedeutete für den Karma-Impuls Rudolf Steiners einen unbeschreiblich grossen Verlust. Es war eine Art des Bruches. Statt ihr rückte Wegman plötzlich in den Mittelpunkt. Eine gewisse Distanz zwischen Rudolf Steiner und Marie S. von Sivers, welche durch den Karma-Impuls entstand, prägt bis heute die anthroposophische Bewegung und Gesellschaft. Marie S. von Sivers, die rechte Hand Rudolf Steiners war, konnte eben damals das Thema Karma durch den Konflikt mit Wegman und aus ihrer Anlage heraus nicht zum eigenen praktischen Impuls machen.Dadurch war es bestimmt, dass das Thema Karma nach dem Tod R. Steiners nicht befördert werden konnte.
Wenn man die Geschichte der Konflikte zwischen Marie S. von Sivers und Ita Wegman nachgeht, kann man an der Art und Weise, wie durch einige junge Menschen die karmische Tatsache erkannten, die zwischen Wegman und Steiner besteht, nach dem Tod Steiners an die Person Marie S. von Sivers herangebracht wurde, feststellen, dass es Marie S. von Sivers sehr verletzt hat. Zwar hatten sie die richtige Erkenntnis, dass die zwei Individualitäten, deren gemeinsamen Inkarnationsreihe während der Weihnachtstagung von Steiner dargestellt wurde, Steiner und Wegman seien. Diese jungen Menschen haben ihre Vermutung durch Steiner bestätigen lassen, dass sie stimmte. Die Erkenntnis war also nicht falsch, dennoch machte der Umgang damit die erheblichen Probleme. Darin sehe ich ein klares Beispiel der Schwierigkeit in der Handhabung der karmischen Tatsachen, die wir sehr wohl im Sinn haben sollten.
Und durch diesen Vorfall verschloss sich Marie S. von Sivers gänzlich vor dem Thema Karma. Man hat höchstens über das Thema Karmaerkenntnis wie etwas ganz Heiliges und etwas nie Erreichbares gesprochen. Aber die Bemühungen, wirklich praktisch an das Karma heran zu gehen, wurde wie ein absolutes Tabu empfunden. Dahinter steckt selbstverständlich die persönliche Haltung und Erfahrung Marie S. von Sivers.
Die Widerstände waren damals noch sehr stark und die meisten Menschen haben noch keinen guten Umgang mit dem Thema Karma entwickeln können. Es ist biographisch verständlich, wieso Marie von Sivers diesen wichtigen Impuls Steiners nicht mehr innerlich mittragen konnte. Darin liegt ein tiefes menschliches Leid von ihr, das sie erleben musste. Man kann ihr ein Mitgefühl entgegenbringen, weil es so klar zu empfinden ist, wie viel und wie lange sie bis dahin sich stets für die Entwicklung der Anthroposophie aufgeopfert hatte. Steiner konnte durch die Kräfte Wegmans wieder einen neuen Impuls für die konkrete Weiterführung erfahren, aber Marie S. von Sivers konnte es nicht so erleben.
Wer die sozialen Schwierigkeiten überwinden will, braucht die wahre Erkenntnis über die Stäke aber auch die Grenze der eigenen Qualität, um dadurch die Wahrheit zu erfahren, wie jeder ohne Ausnahme in Wirklichkeit doch zuletzt durch die Grenze des Individuell Seins auf die Andersartigkeit der anderen Menschen angewiesen ist. Das ist eine geistige Realität, die aber heute im Alltag nicht empfunden werden kann.
Eine offene Karma-Aufgabe in der Gegenwart -
Zusammenarbeit zwischen I. Wegman und M. S. von Sivers für den ätherischen Christus
Marie S. von Sivers blieb bis zum Schluss ihres Lebens eher kosmisch als menschlich. Wenn ihre Individualität wieder auf der Erde ist, dann wird sie durch die bitteren Erlebnissen ihres letzten Lebens heraus wahrscheinlich ein Bedenken für den praktischen Umgang mit dem Karma empfinden, auch wenn sie wieder unweigerlich die intensive innere Flamme zur Anthroposophie in sich entfaltet und die kosmische Dimension der Anthroposophie auf reinste und unschuldigste Weise vertreten vermag. Sicherlich wird sie durch das individuelle Einwirken des ätherischen Christus dazu geführt, sich doch mit dem Thema Karma auseinanderzusetzen, was im letzten Leben durch die Konflikte mit Wegman gehindert wurde.
Wegman sagte vor ihrem Tod überzeugt, dass kein schwieriges Karma mehr zwischen ihr und Marie von Sivers besteht. Das ist auch meine Überzeugung. I. Wegman schrieb vor dem Tod einen anerkennenden Brief an Marie S. von S. Marie S. v. S. bereute auch später ihre Fehler, mitverursacht zu haben, dass die Menschen auf die Art aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Dennoch kann Marie S. von Sivers aus den karmischen Konsequenzen heraus wahrscheinlich eine Prüfung im neuen Leben erleben, an der sie dazu gebracht wird, nicht nur das anzunehmen, die Anthroposophie vollkommen und perfekt in ihrer reinen kosmischen Höhe zu bewahren, sondern etwas Anderes daneben auch wertzuschätzen, z.B. einen freien willensmässigen und mutigen Umgang mit der Anthroposophie, um etwas Lebenspraktisches zustande zu bringen, so wie Wegman aus ihrer warmen und liebevollen Menschlichkeit heraus unmittelbar versuchte. Und das beinhaltet eben nicht nur ein meisterhaftes theoretisches Verständnis, was der ätherische Christus ist, sondern die praktische Karma-Erkenntnis im Sinne des ätherischen Christus.
Das Gleiche wird im gewissen Sinne bei der Individualität Wegmans gelten, dass ihre Strömung eben auch ein Verständnis gegenüber den Menschen entwickeln sollten, von der wie Marie S. das reinste Beispiel war - ein Verständnis gegenüber den Menschen, die nicht sofort zum praktischen Handeln kommen wollen, sondern das Bestehende auf reine Weise weiter pflegen wollen, damit nicht die Schätze verfälscht werden.
Diese zwei polaren karmischen Strömungen Wegmans und Marie S. von Sivers, die dennoch ein- und dasselbe Ziel für Michael und den ätherischen Christus tragen, kamen bis heute innerhalb der anthroposophischen Bewegung nie wirklich zusammen. Das verursacht ein starkes Hindernis der Entwicklung der Anthroposophie.
Die bisherige klassische Umgangsart mit der Anthroposophie, die von der rein-geistigen Art Marie von Sivers intensiv geprägt wurde, kann heute im 21 Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit den Gegnern des ätherischen Christus, die den Spritualimus übermaterialisieren wollen, nicht allein standhalten.
Die rein geistig-gedankliche Art der Pflege des anthroposophischen Lebens kann nicht allein die Widerstände leisten gegenüber dem immer stärker werdenden spirituellen Materialismus, der - so wie Steiner sagt - das Christusverständnis in der alten Art konservieren will, um das gegenwärtige Wirken des Christus im Ätherischen unbemerkt zu lassen.
Junko Althaus