Es gibt verschiedene Etappen innerhalb einer Forschung. Man kann zu den alten Ergebnissen eine neue Erkenntnis hinzubekommen. Und auf diese Weise kommt man stückweise immer weiter. So wie Paulus in seinem „ Hohen Lied der Liebe“ sagt, unsere Erkenntnis ist zunächst nur Stückwerk. Wenn man dennoch das Stückwerk, welches in einer Forschung sich summiert, stets in einen Zusammenhang bringen kann, dann kommt man immer einen Schritt weiter. Es ist faszinierend zu erfahren, wie die Erkenntnisse sich in einer Forschung erweitern und dadurch immer vielseitiger und umfassender ein Forschungsgegenstand beleuchtet werden kann. Diese Faszination kennt jeder wirkliche Forscher, egal ob es sich um eine spirituelle oder schulwissenschaftliche Forschung handelt.
Nach meiner Erkenntnis praktizierte auch Steiner diese Forschungsweise und war ein Meister davon. Er sagt z.B. in Bezug auf Goethes Märchen, dass er nur stufenweise in das Geheimnis des Märchens hineindringen konnte. Steiner konnte durch 3 Jahrsiebte hindurch seine Erkenntnis in Bezug auf dieses Werk von Goethe erweitern. Nicht was am Anfang da war, war falsch, sondern er baute immer mehr auf dem Vorhergehenden weiter. Das kann ich sehr gut verstehen, denn ich erlebe es auch nicht anders. Ich kann nie auf einen Schub eine ganz klare oder umfassende Erkenntnis gewinnen, kann nur stufenweise meine Erkenntnis erweitern und brauche dafür immer einen gewissen Zeitraum.
Ich spiegele z.B. ein biographisches Ereignis in meiner Kindheit. Ich tue es in meinem 33. Lebensjahr, dann stelle ich an dem Ereignis eine bestimmte Erkenntnis fest, die einen gewissen Zusammenhang mit der konkreten Situation im 33. Lebensjahr zeigt. Und dann kommt mir das gleiche biographische Ereignis wieder im 40. Lebensjahr in den Sinn und ich betrachte es und gewinne wiederum eine andere Erkenntnis, welche eine Erweiterung von der ist, die ich bereits mit 33 gewonnen habe u.s.w.
Ich habe mir vor einigen Jahren bewusst gemacht, dass die menschliche Erinnerungsfähigkeit uns eine ganz interessante Erkenntnis-Möglichkeit gibt. Ich erlebe z.B. gerade jetzt etwas ganz Bestimmtes. Sagen wir mal, ich erlebe, dass jemand mich beschimpft hat. Das geschah an einem bestimmten Tag und an einem bestimmten Ort durch einen ganz bestimmten Menschen. Ich nehme es wahr durch meine Sinne. Und ich gehe nach Hause und erinnere mich abends an dieses Ereignis. In meinem Bewusstsein kommen die Erinnerungen wie eine Art der sinnlichen Bilder. Ich sehe noch klar, wie die Stimme des Menschen, die mich beschimpfte, im irdischen Sinne tatsächlich geklungen hat, wie das Zimmer physisch tatsächlich ausgesehen hat, in dem ich stand. Also alle sinnlichen Eindrücke und Bilder sind noch klar und deutlich in meinem Bewusstsein. Aber das bleibt nicht so. Bereits am nächsten Tag merke ich einen deutlichen Unterschied zu dem Vortag. Am nächsten Tag merke ich, dass diese sinnlichen Einzelheiten, die ich gestern im Ereignis mit meinen physischen Sinnesorgane wahrnahm und abends noch so stark im Vordergrund in meiner Erinnerung spürte, sind bereits deutlich zurück gegangen. Stattdessen merke ich, dass in diesen Erinnerungsbildern sich etwas Anderes zeigt, was ich gestern noch nicht erkennen konnte. Das ist eine Wahrnehmung/Erkenntnis der geistigen Art. Das nenne ich so wie Steiner eine Durchsichtigmachung.
Dieser Vorgang ist identisch mit einer Karmaübung, die Dreitage-Übung, welche Steiner in einem Karmavortrag den Menschen gegeben hat. Eine Verwandlung in den Erinnerungsbildern findet dabei statt. Und das geht so an den folgenden Tagen weiter. Ich habe schon früher erfahren, dass die Erinnerungen im Laufe der Zeit eine Art Vergeistigung erfahren können, konnte mir aber lange nicht das so richtig bewusst machen. Als ich diese Dreitage-Übung als eine Übung machte, habe ich zuerst kein befriedigendes Ergebnis für eine Karmaerkenntnis herausbekommen. Wahrscheinlich habe ich zu viele kopfmässigen Vorstellungen gehabt, welche eine unbefangene Wahrnehmung verhinderten. Ausserdem war an mir damals noch nicht weit das Wahrnehmungs-Erkenntnis-Organ ausgebildet, das ich im letzten Artikel ein wenig beschrieben habe. Aus diesem Grund bin ich nicht immer dafür, eine Übung Steiners als eine feste Übung immer pedantisch zu wiederholen. Man kann das Wesentliche, was Steiner in einer Übung zum Ausdruck bringen will, auch viel freier am Leben selber beobachten. Manchmal erreicht man auf solche freie Weise - mit ein wenig Fantasie - viel mehr als in einer starren und äusserlichen Wiederholung der von ihm einmal gegebenen Übungen.
Z.B. habe ich in einer freien Beobachtung festgestellt: Ich erinnere mich an ein Kindheitsereignis in meinem 33. Lebensjahr. Dann stehen die damaligen iridisch-sinnlichen Eindrücke nicht mehr so stark im Vordergrund. Und gerade weil sie durch die Einwirkung des zeitlichen Fortschreitens zurückgegangen sind, taucht etwas ganz Anderes in den Erinnerungen auf. Und dieses, was statt den starken irdisch-sinnlichen Eindrücken und Einzelheiten auftaucht, ist etwas Geistes, was hinter dem irdisch-sinnlichen Schleier verdeckt war und das ich deshalb damals noch nicht sehen und erkennen konnte. Und diese Art der Vertiefung der Erkenntnis geht immer weiter. Ich habe immer wieder erlebt, dass ich in einem späteren Zeitpunkt eine tiefere Erkenntnis gewann. Ich erlebe so, dass ich durch die stets metamorphosierenden Erinnerungsbilder in ein immer tieferes Gebiet des Geistes hineinblicken kann. Aber die Erkenntnisse, die jeweils gewonnen werden, sind nicht zusammenhanglos, sondern sie stehen zueinander in einem exakten Zusammenhang.
Das ist eine geistige Erkenntnis/Forschungsmethode, die ich auch an den konkreten Beispielen Steiners festgestellt habe. Dabei braucht man ein Denken, das sich nicht auf die sinnlich-iridischen Wahrnehmungen und Gegenständen abstützten muss. Reines Denken, so wie Steiner sagt, eine Art des Denkens, in dem man das Geistige von den sinnlich-irdischen Erinnerungen herausätherisiert.
Junko Althaus
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